Schichtwechsel in der Zentrale von Rapido, einer der beiden alteingesessenen Kölner Radkurierbuden: Lu ist Fahrradkurier in Köln und bespricht mit dem Disponenten Nino, der gerade den Bürostuhl, die Telefone und die Verantwortung übernommen hat, welche Aufträge er mit den nächsten Touren erledigen kann. Gute Planung bedeutet Effizienz. Aber Effizienz bedeutet an diesem Tag nicht in erster Linie mehr Umsatz, sondern, dass man dem Kollegen den Rücken freihalten kann. Der ist heute nicht ganz fit und würde gerne früher Feierabend machen.
Man muss sich einen Fahrradkurier in Köln wohl als sehr ausgeglichene Menschen vorstellen. Das Miteinander im Kollektiv, die Freiheit auf dem Fahrrad, volle Konzentration auf den Verkehrsfluss und die beste Route durch die Stadt, die währenddessen mit ihren Straßen, Häusern, Bürokomplexen, Parks, Brücken und Ufern vorbeizieht: „Fitness und innere Ruhe: Mich stabilisiert das enorm“, sagt Lu, eigentlich Lutz.
Effizienz und Solidarität: Fahrradkuriere in Köln halten zusammen!
Er stellt sich vor als trans, auf dem Weg zur Identität als Mann, derzeit aber noch weiblich gelesen. Was einige Widersprüche auslöst. Auf dem Fahrrad wird Lu öfter angehupt. „Freche Frauen finden viele Autofahrer unmöglich“, sagt der 28-Jährige. In der generell als linksprogressiv geltenden Radkurierszene fühlt er sich dagegen wohl, nicht nur wegen der Offenheit. Was auch gut passt: Eine gewisse Affinität zum Adrenalin, zum traditionell männlich dominierten Radsport, mit einem Alltag unter Zeitdruck, mit dem mitunter einsilbigen Umgangston und dem manchmal wenig achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper.
Für Frauen sei das eher weniger attraktiv, meint Lu. Zwar fahren bei Rapido seit Jahren drei Kolleginnen mit, als wichtige Säulen im Team, wie Nino bemerkt. Sie dürften aber absehbar in der Unterzahl bleiben. Es fehle an Anreizen, sich reinzukämpfen, sagt Lu, vor allem wegen der schlechten Bezahlung: „Das hieße ja, sich gegen den Strom nach unten durch die gläserne Decke zu kämpfen.“
Reich wird in den Kurierbuden keiner. Wer an die Rente denken muss – ja, manche sind wirklich schon so lange dabei – schaut, dass er oder sie irgendwann den Absprung schafft. Wer den Kurier*innen zuhört, wer ihre Reflektionen über die Stadt, den Verkehr, die Straßen, die Gesellschaft und die Zukunft ernst nimmt, spürt aber, was sie zusammenhält. Sie verstehen sich als solidarische Gemeinschaft von Charakteren, die ihre Freiheit ebenso sehr lieben wie ihre Räder und die Menschen um sie herum. Jenseits aller Verklärung und trotz kommerziellem Ausverkauf der durch sie geprägten urbanen Radfahrästhetik: Man spürt auch, dass sie echte Vorreiter waren – und immer noch sind.
Die goldenen Jahre: Als die Taschen überquollen
Es gab eine Zeit in Köln, etwa zwischen den 1980er und den Nuller Jahren, als ihre Taschen überquollen. Besonders die Grafikagenturen und Werber der Medienstadt vertrauten ihre Daten-CDs, Probedrucke und fertige Produkte den Fahrer*innen an, die mit Umhängetasche, Shorts, dickem Schloss in der Hosentasche und Radsportmützen den dauerverstopften Straßen trotzten. Wer eilige offizielle Dokumente abliefern musste, griff dankbar auf ihre Dienste zurück. Es gab an vielen Tagen mehr Aufträge als die Beine bewältigen konnten. Fahrradkurier in Köln: Das war schon damals eine Lebenseinstellung. Dann kamen die Glasfaserleitungen und Rechtssicherheit für Postverkehr per E-Mail. Die Kuriere gibt es immer noch.
Anarchisch und rücksichtsvoll
In der Zentrale mitten im Belgischen Viertel erkennen die Fahrer an, dass sich der Verkehr in der Stadt der wachsenden Zahl der Fahrräder angepasst hat. Sie nennen die Radspur auf den Ringen Fahrrad-Autobahn, weil sie so breit ist. Vor nicht einmal zehn Jahren waren die Ringe zweispurig für den Autoverkehr und fest in der Hand von dauergestressten Berufspendlern oder Posern mit dicken Karren.
Du musst ein Geist sein auf der Straße.
Nino, Fahrradkurier bei Radio in Köln
Eine „unglaubliche Veränderung“, stellt Nino fest. „Vor 18 Jahren waren wir noch die einzigen zwischen den Autos“, sagt er. Trotzdem will sich immer noch keiner der Kuriere auf die Radwege beschränken. Sie fahren dort, wo sie vorankommen, ohne dabei andere zu gefährden oder zu behindern. Anarchisch, schnell aber rücksichtsvoll. Oder wie Nino es ausdrückt: „Du musst ein Geist sein auf der Straße.“ Das falle ihnen heute leichter.
Deutsche Meisterschaft der Fahrradkuriere: Feiern und vernetzen
Zuletzt feierten 250 Kurier*innen aus ganz Deutschland die Symbiose aus Mensch und Bike bei der Deutschen Meisterschaft der Radkuriere in einem Vogelsanger Gewerbegebiet, dort, wo eine rot leuchtende Fahrradbrücke den Militärring überquert. Eine der Auffahrten verläuft markant im Zickzack über mehrere Ebenen platzsparend nach oben. Die Fahrer*innen stellten auf einem ihrem Alltag nachempfundenen Racetrack Speed und Geschicklichkeit unter Beweis, Beharrlichkeit beim kompetitiven Trackstand oder der verschärften Form, in der es gestattet ist, sich gegenseitig aus dem Gleichgewicht zu schubsen. Unkommerzielle Subkultur, ein bisschen Punk, ganz viel DIY, ein Stachel im immer noch heftig automobil geprägten Verkehr der Gegenwart, so verstehen sie sich, mit einem gesellschaftlichen Bewusstsein. „Das ist eine linksprogressive Szene“, sagt Laurenz, einer der Organisatoren, und Fahrer beim Bike Syndikat, der anderen Kölner Kurierbude.
Kampf um Mindestlohn und die „Letzte Meile”
Die Meisterschaft in Köln diente der Vernetzung, deutschland- und europaweit. Das gilt auch für Freundschaften. Ein paar Monate in einer anderen Stadt fahren, auf einer WG-Couch übernachten und rauskommen aus dem eigenen Alltag, das tut vielen der Fahrer*innen gut. Für die Branche geht es auch um das Wirtschaftliche. Sie hat sich längst ausdifferenziert. Unter dem Stichwort „Letzte Meile“ sucht die Logistikbranche nach klimaschonenden Alternativen zum Laster in der Stadt. Lastenräder, Lieferdienste mit E-Bikes, Unternehmen mit Cargo-Bike-Flotten bieten Dienste an, die weit über die der klassischen Radkuriere hinausgehen. Die Kämpfe für akzeptable Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung verfolgen Laurenz, Lu, Nino und ihre Kolleg*innen sehr aufmerksam, wobei in ihrer Nische eher die Selbstausbeutung droht. Immerhin, ihr Stundenlohn als Fahrradkurier in Köln liegt inzwischen über dem Mindestlohn. Und auf das eigene Fahrrad würden sie ohnehin niemals verzichten wollen.
Fahrradkurier in Köln: Ein Job mit Tradition
Sorgen um ihre Nische machen sie sich eigentlich nicht. Vielleicht hilft ihnen auch eine typische kölsche Haltung. Wer will, kann hier nämlich alles bis in die Römerzeit zurückverfolgen. Schon in der antiken Colonia Claudia Ara Agrippinensium habe es Kuriere gegeben, die wichtige Dokumente und Güter von A nach B transportierten, so steht es im Konzept für die Radkuriermeisterschaft, das Laurenz bei der Genehmigung der Stadtverwaltung vorgelegt hat.
Wenn man den Kurieren zuschaut, die heute über die Ringe, durch Altstadtgassen, am Rheinufer, zwischen Gewerbegebieten, Shoppingmeilen und Bürogebäuden hin- und herflitzen, liegt der Gedanke an die überschaubare Römerstadt vielleicht eher fern. Und doch scheint es plausibel, dass Kuriere, die sich nur dank ihrer Muskelkraft durch die Stadt bewegen, einfach seit jeher zum urbanen Alltag gehört haben – und dass sich das wohl auch in der absehbaren Zukunft nicht ändern wird.
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