Zum Geleit:
Der nachfolgende Text bedarf ein paar weniger Erläuterungen. Geschrieben wurde er bereits zum zehnjährigen Betriebsjubiläum meines Arbeitsgebers Rapido, damals eines von drei Kölner Fahrradkurierunternehmen. Er sollte eigentlich in der dazugehörigen Festbroschüre erscheinen, tat dies aber nicht, weil dieses Büchlein aus den diversesten Gründen nie das Licht der Welt erblicken sollte. Nebenbei sei erwähnt, daß das Fahrradfahren meine erste Beschäftigung war, die ich nicht nach einem halben Jahr abgebrochen habe.
Einleitung:
Zugegeben, auf den ersten Blick scheint sich zwischen dem Begriffspaar Fahrradkurier – Poesie ein Widerspruch aufzutun, wie er größer kaum sein könnte. Doch im Folgenden werde ich versuchen, darzulegen, daß die Verbindung der beiden Begriffe sehr wohl Sinn macht und der scheinbar ins Auge springende Widerspruch eben nur ein scheinbarer ist. Überlegen wir einmal, auch rechts und links bilden eigentlich einen Widerspruch; doch kann es das Eine ohne das Andere geben? Gehören sie nicht zusammen wie Eiweiß und Eigelb? Es ist zu offensichtlich, wie Ihre Antwort ausfällt und doch – ich sehe das – zweifeln Sie noch daran, daß FahrradkurierInnen und Poesie sich genauso ergänzen wie Die Ärzte und PatientInnen oder – um im Genre zu bleiben – Kette und Ritzel, bzw. Paarreim und Endreim. Wir werden sehen.
Begriffsklärung und Begriffsanalyse:
Ein Fahrradkurier ist eine Person, die im Auftrag einer anderen einen Gegenstand (Disketten, Akten, Blumen, Anrufbeantworter …) von A nach B bringt. Dazu bedient sich der Fahrer/die Fahrerin aus mehreren Gründen – wie kann es anders sein – des Fahrrads. Zieht man/frau den angloamerikanischen Fachbegriff der bike oder cycle messengers hinzu, wird spätestens klar, worum es dabei geht.
Auch wenn es immer wieder Versuche zweifelhafter Zeitgeistschriften oder der Werbung (aktuelles Beispiel gefällig? “Was kann man vom Fahrradkurier lernen? – Land und Wirtschaft NRW”) gibt und geben wird, ist die Arbeit, mit der sich so ein paar “Verrückte” ihren Lebensunterhalt verdienen, eine, die nicht zeitgemäß ist. In unserer schnellebigen Zeit, in der der Drittwagen einer zweiköpfigen Familie vollkommen normal zu sein scheint und in der selbst populistische Blätter wie die Bildzeitung u.a. von der “Datenautobahn” und vom “Surfen im Internet” sprechen, ist ein traditionelles Arbeitsgerät wie das Fahrrad einfach veraltet und eben nicht mehr zeitgemäß.
Aber wem erzähle ich das eigentlich? Denn Sie, die Sie diese Zeilen jetzt zur Hand haben, wissen eh’ schon längst, die Vorteile der messengers zu nutzen und wissen auch, was es mit diesem Phänomen auf sich hat. Doch wissen Sie auch, was sich hinter dem Schlagwort der Poesie verbirgt? Klar, viele von Ihnen kennen Cyrano de Bergerac, von mir aus auch noch den Club der toten Dichter. aber haben Sie auch nur ein einziges Wort von z.B. Henry David Thoreau je gelesen? Na, also…
Das Wort Poesie stammt (wie so vieles) aus dem Griechischen und meint in der ursprünglichen Bedeutung “das Verfertigen”, in der übertragenen aber “das Dichten” oder “die Dichtkunst”. Der Begriff Poesie ist also eine Bezeichnung für Dichtung und da im Besonderen für die sogenannte Versdichtung. Somit steht er, wenn auch in gegenseitigem Austausch, im Gegensatz zur Prosa. Poesie ist das (einzige?) Ausdrucksmittel der Liebenden und auch der Lieblosen, der Leidenden und der Leidenschaftlichen, der Verlangenden und der Gebenden, der Wissenden genauso wie der Unwissenden, der Romantiker sowie der Realisten, der Sprachgenies und auch gerade der Legastheniker. Die von mir geliebte Poesie hat in ihrer langen Geschichte häufige Wandlungen durchleben müssen. So wurde sie für jegliche Form des Ausdrucks ge- und manchmal auch mißbraucht. Doch welche Strömungen auch immer vorherrschten, ist die höchste Form der Poesie die, in der die Liebenden ihrer brennenden Leidenschaft und feurigen Liebe füreinander Ausdruck verleihen, ja oftmals – um nicht daran zu Grunde zu gehen – verleihen müssen.
Zu meinem Bedauern ist die Poesie in unserer heutigen Zeit nicht mehr gern gelitten. So hört man/frau immer seltener von flehenden Reimformulierungen oder leidenschaftlichen Liebesgedichten. Wann haben Sie z.B. das letzte selbstformulierte und mit aufrichtiger Inbrunst verfasste Poem in Ihren vor Begeisterung zitternden Händen gehalten? Wusste ich es doch… Sie sehen, auch die Poesie ist einfach veraltet und eben nicht mehr zeitgemäß.
In unserer unruhigen Welt verbindet man/frau mit FahrradkurierInnen das Gefühl der Hektik und Schnelligkeit. Dies trifft aber nur bedingt zu, denn die Hektik entsteht nur durch die langsamen Aufzüge (oder den/die unfähige TelefonistIn), denn die vertrödelte Zeit muß aufgeholt werden und auch die Schnelligkeit ist nur eine relative; im direktem Vergleich mit den im Stau stehenden und somit langsameren Autos. Dann verbindet man/frau sofort körperliche Arbeit und Anstrengung, sieht man/frau auch nur den kleinsten Schweißtropfen auf der Stirn oder in der Achselhöhle des/der bestellten FahrerIn. Daß dieser Schweiß auch ganz andere Ursachen haben könnte (wie z.B. eine zutiefst unglückliche Liebe) wird viel zu oft außer Acht gelassen.
Mit Poesie verbinden man und frau sofort Ruhe, Gelassenheit und Kopfarbeit. Das trifft aber ebenfalls nur bedingt zu, denn die Ruhe ist vielmehr das Gegenteil ihrer selbst: Die Unruhe, “Wie weit darf ich in meinen Formulierungen gehen, ohne die angebetene Person vor den Kopf zu stoßen? Wie verbalisiere ich mein Anliegen am treffendsten?” Ãœberlegen Sie doch einmal, wie es bei Ihnen war, als Sie der von Ihnenverehrten Person das Werk vieler schlafloser Nächte, zerknüllten Blättern Papier und leeren Rotweinflaschen (per FahrradkurierIn) zukommen ließen: “Wie wird er/sie reagieren? Ob meine Träume nun Wahrheit werden?” Als Gelassenheit – Sie werden mir zustimmen – ist das wirklich nicht zu bezeichnen. Kopfarbeit? Ich bitte Sie, wo kommen Ihre unwiderstehlichen Gefühle denn her? Oder ist es nicht viel mehr das vor Begierde lichterloh flammende Herz, welches Sie dazu veranlasst, die glühendsten Worte zu Papier zu bringen?
Conclusio:
Wie gesehen, sind die Widersprüche tatsächlich nur scheinbar und das Begriffspaar Fahrradkurier – Poesie gehört zusammen wie Sonnenschein und Regen. Das scheint auf den ersten Blick zwar sehr abwegig, ist bei genauer Betrachtung (s.o.) aber nicht von der Hand zu weisen. Im Endeffekt ist es sogar so, daß sich FahrradkurierInnen und Poesie gegenseitig bedingen.
Glauben Sie mir! Denn ich bin nunmal eine der wenigen Personen, die Poet und nebenbei auch Fahrradkurier in Personalunion war. Wer verspürt schon mehr Leid (und auch Leidenschaft) als FahrradkurierInnen, die bei Wind und Wetter fest im Sattel sitzen und nur das Eine im Sinn haben: Die anvertraute Botschaft eiligst und ohne zu knicken dem Empfänger/der Empfängerin zuzustellen – es könnte sich dabei ja immerhin um eine Botschaft höchster Gefühle handeln. Nicht wahr?
Die Poesie wiederum war sich schon immer ihrer Rolle als Ausdrucksform der Unterdrückten und der Leidenden bewußt. So ist es auch kein Wunder, daß immer mehr FahrradkurierInnen ihre eigentliche Profession erkennen und die wunderbarsten Gedichte entstehen lassen. So ist es bei Rapido auch schon fast zur Regel geworden, daß man und frau sich nicht mehr über anstrengende Fahrten oder schlechtgelaunte KundInnen unterhalten, sondern die wunderbarsten Vierzeiler zum Besten geben. Deshalb – und ich bin mir nicht sicher, ob Sie das bereits wissen – wurden ja auch die Funkgeräte angeschafft. Denn, wo hat man/frau innovativere Eingebungen für ein leidenschaftliches Liebespoem als im Straßenverkehr?
Immer öfter werden die TelefonistInnen dann auch als Schreibkräfte eingespannt, um die dichterischen Ergüsse auch für die Nachwelt zu erhalten. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie demnächst Köln 520025 (Tel.-Nr. von Rapido) wählen und niemand Ihr Gespräch entgegennimmt. Es gibt schließlich Wichtigeres als irgendwelche Druckvorlagen. Und wenn Sie uns einmal zutiefst erfreuen wollen, begrüßen Sie uns doch einfach mit einem spontanen, selbstgedichtetem Verslein.
Ausblick:
Eigentlich wollte ich zum Abschluß ein eigenhändig verfasstes und – wie sich das gehört – mit Herzensblut geschriebenes Poem in Alexandrinerform (6-hebiger Jambus, mit Zäsur nach der dritten Hebung), wie es Alexander Gryphius zu Zeiten des 30jährigen Krieges so trefflich verstand, zum Besten geben, doch würde das die Hauptthese meines Standardwerkes “Gedichte und Reimkunst in Zeiten des Nationalsozialismus” falsifizieren. Denn Gedichte sind nunmal latent faschistoid!
Deshalb nur einen Ausblick auf die Broschüre zum zwanzigjährigen Rapido-Jubiläum, in der ich Ihnen Henry David Thoreau näher bringen will. Da bis dahin aber noch einige Fahrten zu erledigen sind, will ich Ihnen, liebe Rapido-Kunden, wenigstens schon mal den Mund wäsrig machen: Der gute Henry lebte von 1817 – 1862 und wurde dort geboren, wo er auch starb, in Concord, Massachusetts. Er war Mitglied der Transzendentalisten, radikaler Nonkonformist und Individualist. Erwähnen muß ich hier natürlich das bekannte “Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat” von 1849. Von 1845 – 1847 lebte er mit den dürftigsten Hilfsmitteln in einer selbstgebauten Blockhütte am Walden Pond bei Concord. In seinem vielleicht besten und bedeutendstem Werk “Walden” (1854) schildert er die dort erlebte Zeit.
Ist das nicht toll?
Rainer gOTT